Automatische Planung und Steuerung des Bahnbetriebs: von der Vision zum Prototyp
In der automatischen, gesamthaften Optimierung des Eisenbahnverkehrs liegt eines der größten Potenziale zur Steigerung der Kapazität und Qualität im System Bahn – ohne den Bau neuer Gleise. Die fortschreitende Digitalisierung und damit einhergehende Datenverfügbarkeit sowie neue Technologien und Methoden wie „Deep Reinforcement Learning“ (bestärkendes Lernen) bieten heute die Möglichkeit, dieses Potenzial mittels Künstlicher Intelligenz (KI) zu heben. Im Zielzustand wird so eine Echtzeitsteuerung des gesamten Bahnverkehrs möglich; Verkehrsnachfrage und Ressourcen können dann jederzeit optimal aufeinander abgestimmt werden. Die Digitale Schiene Deutschland entwickelt mit dem Capacity & Traffic Management System (CTMS) einen wichtigen Baustein für ein solches digitales Transportsystem. Der aktuelle CTMS-Prototyp zeigt am kleinen Beispiel, wie das funktioniert.
In einer zukünftigen, durchgehend digitalisierten Welt des Personen- und Gütertransports lägen alle relevanten Informationen in nahezu Echtzeit parat:
1. Verkehrsbedarf
2. Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln
3. Verfügbarkeit der jeweiligen Infrastrukturen
Dann würden Szenarien wie dieses möglich: Anhand der aktuellen Zuschauerzahl im Stadion ist bereits zur Halbzeit bekannt, dass zehn Busse und fünf S-Bahn-Züge mehr als geplant nötig sind, um Fahrgäste nach der Sportveranstaltung abzuholen. Das System (oder eher ein Verbund von Systemen) plant Sonderfahrten und disponiert darauf entsprechende Fahrzeuge. Dabei weiß es bereits, dass einer der S-Bahn-Triebwagen nach seiner jetzt neu geplanten Strecke von 42 km in die Reparatur muss, weil die Diagnosesensorik an Bord des Fahrzeugs dem Bremssystem nur noch weitere 50 km Fahrt erlaubt. Daher leitet das System den Zug nach dem letzten Passagierhalt ins nächstgelegene Reparaturwerk und bestellt dort für die kommende Frühschicht ein zusätzliches Instandhaltungsteam.
Dieses Szenario ist heute noch Zukunftsmusik. Ein zentraler Baustein für die Realisierung dieses Beispiels wird jedoch bei der Digitalen Schiene Deutschland (DSD) entwickelt: das Capacity & Traffic Management System (CTMS), welches die Kapazität des Schienennetzes der DB Netz zum zentralen Optimierungsgegenstand hat. Es hat zum Ziel, die Netzkapazität auf Basis der Bedürfnisse der Nutzer optimal zu verteilen. Dies betrifft fahrende und abgestellte Züge sowie Netz-Restriktionen (etwa für Baustellen). Zu diesem Zweck macht das CTMS mikroskopisch detaillierte Ablaufpläne für Fahrzeuge und Infrastruktur, und es setzt diese Ablaufpläne betrieblich um. Es macht Pläne sowohl für die unmittelbare als auch die weit entfernte Zukunft. Damit verschmelzen die heutigen Grenzen von Planung und Disposition.
Der aktuell erreichte CTMS-Prototyp plant bis zu 400 Zugfahrten über mehrere Betriebsstunden auf mittelgroßen Netzkorridoren von rund tausend Streckenkilometern. Planungsbasis sind (imitierte) Anfragen von Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) nach Zugfahrten mit gegebenem Start, Ziel und Verkehrshalten sowie Gleispräferenzen in Bahnhöfen. Die Optimierungsziele sind kürzeste Wege und die Einhaltung der zeitlichen Kundenwünsche. Die erstellten Ablaufpläne sind auf Meter und Sekunde präzise und enthalten die notwendigen Anfragen nach Weichenstellung und Erteilung von Fahrfreigaben an das digitale Sicherungssystem der DSD (Advanced Protection System APS).
Momentan werden die Pläne noch in einer mikroskopisch scharfen Emulation umgesetzt. Als nächster Schritt ist vorgesehen, mit dem CTMS ein Modellbahn-Betriebsfeld anzusteuern. Im jetzigen, emulierten Live-Betrieb können dem CTMS-Prototyp Störungen mitgeteilt werden. Auf diese reagiert der Prototyp mit entsprechendem Umplanen der fahrenden und geplanten Züge. Hierbei blickt das CTMS auf die Gesamtsicht aller Züge, egal ob sie direkt oder indirekt von der Störung betroffen sind (siehe Abbildung). Das Optimierungsziel im Störungsfall ist eine minimale Gesamtverspätung aller Züge gegenüber dem vorherigen Plan.
Für die Optimierung kommt im Wesentlichen „Deep Reinforcement Learning“ (bestärkendes Lernen) – eine Methode der Künstlichen Intelligenz (KI) – zum Einsatz. Diese KI sowie andere Optimierungsansätze werden mit Unterstützung industrieller und akademischer Partner ebenfalls bei der Digitalen Schiene Deutschland entwickelt. Dazu zählt zum Beispiel das Unternehmen InstaDeep Ltd mit Sitz in London und Standorten weltweit. Unter dem Titel „Künstliche Intelligenz für das Verkehrsmanagementsystem der Zukunft“ wird im Februar ein Artikel der Digitalen Schiene Deutschland im Fachmagazin „Signal & Draht“ erscheinen. Dazu werden wir in den Online Channels der Digitalen Schiene Deutschland parallel berichten.
Der erste betriebliche Einsatz des CTMS ist im Digitalen Knoten Stuttgart (DKS) geplant. Spätestens 2030 soll das CTMS dort zunächst Teile des S-Bahn-Verkehrs via ATO GoA 2 (Automated Train Operation, Grade of Automation 2) auf der Grundlage eines Digitalen Stellwerks (DSTW) mit ETCS Level 2 steuern. Anschließend wird der Steuerbereich des CTMS sukzessive auf den gesamten DKS ausgeweitet, mit Regional-, Fern- und Güterverkehr. Bereits zum Fahrplanwechsel 2025/2026 sollen für das CTMS benötigte Schnittstellen implementiert werden. Über diese wird ein „Übersetzer“ die ATO mit (zunächst statischen) Fahrinformationen versorgen, bis das CTMS in Betrieb genommen wird.
In einer aktuellen Studie von VIA-Con/quattron im Auftrag der DB InfraGO AG zum verkehrlichen Nutzen der Digitalen Schiene Deutschland wurde u.a. auch erstmals die konkrete Wirkung des CTMS untersucht. Zu den Ergebnissen der Studie erscheint in der Februar-Ausgabe des Fachmagazins „Der Eisenbahningenieur“ ein weiterer Artikel der Digitalen Schiene Deutschland. Auch darüber werden wir zeitnah berichten.
Weiterführende Informationen: