Advanced Protection System - Sicherungstechnik von morgen

Neben dem aufwändigen Neubau von Strecken setzt die Deutsche Bahn vor allem darauf, mehr Züge auf dem bestehenden Streckennetz fahren zu lassen. Im heutigen System ist die maximale Anzahl an Zügen jedoch durch die herkömmliche Technik begrenzt: Um sicheren Zugverkehr zu garantieren, müssen Züge aufgrund ihres langen Bremsweges einen Sicherheitsabstand zueinander einhalten. Dafür wird eine Strecke heute in ortsfeste, physikalische Blockabschnitte eingeteilt, welche für den nachfahrenden Zug gesperrt sind, solange der vorausfahrende Zug diese noch nicht verlassen hat. Mit dem Advanced Protection System erarbeitet die Digitale Schiene Deutschland gemeinsam mit europäischen Partnern daher eine zugzentrische Sicherungstechnik, die sich von der Sicherung des Zugverkehrs über Blöcke löst und eine neuartige Sicherungslogik einführt. Das führt zu mehr Kapazität, flexibleren Betriebsabläufen und vereinfachter Streckenausrüstung.  

Das Advanced Protection System – zugzentrische Sicherungstechnik von morgen

Paradigmenwechsel in der Sicherungstechnik

Vereinfacht skizziert hat Eisenbahnsicherungstechnik zwei Aufgaben: die Sicherung des Fahrwegs und die Sicherung des Zugs. Die Fahrwegsicherung ist dafür verantwortlich, dass der Fahrweg des Zuges korrekt eingestellt und gesichert ist. So werden Weichen in die richtige Lage gebracht, es wird Flankenschutz gewährt, der seitliche Kollisionen von Zügen verhindert und es werden per Signal Fahrtinformationen an den Zug übermittelt. Das ist Aufgabe der Stellwerke, von denen in Deutschland vor allem Relaisstellwerke und elektronische Stellwerke im Einsatz sind, aber auch noch mechanische Stellwerke, teilweise als Relikte aus der Kaiserzeit. Die Zugbeeinflussung wiederum stellt sicher, dass der Zug vorgegebene Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht überschreitet und bremst ihn bei Abweichungen automatisch ein, sodass Gefahren minimiert werden. In Europa gibt es rund 20 verschiedene Zugbeeinflussungssysteme, in Deutschland sind drei davon im Einsatz.  

 

Sowohl Fahrwegsicherung (Stellwerke) als auch Zugbeeinflussungssystem werden derzeit durch die Digitale Schiene Deutschland mit ETCS Level 2 ohne Signale und Digitalen Stellwerken (DSTW) modernisiert. Dies bringt bereits einen merkbaren Anstieg an Kapazität und Effizienz im Bahnsystem und schafft eine einheitliche technische Basis, wenngleich dafür eine große Anzahl an zusätzlichen Feldelementen wie Achszählern notwendig ist. Das volle Potential kann erst mit einer Sicherungstechnik entfaltet werden, die sich von der limitierenden Blocklogik löst und eine zugzentrische Sicherungslogik einführt. Gemeinsam mit anderen europäischen Infrastrukturbetreibern wird mit dem Advanced Protection System (APS) eine harmonisierte und standardisierte Leit- und Sicherungstechnik konzipiert, bei der der Zug bzw. die individuelle Zugfahrt in den Mittelpunkt gestellt wird. Dabei handelt es sich um einen Paradigmenwechsel von blockzentrischer zu zugzentrischer Sicherungstechnik. 

Die Vorteile von APS resultieren aus der Auflösung der Blöcke und der Einführung einer neuartigen Sicherungslogik

Mit der Einführung einer zugzentrischen Sicherungstechnik wird der Sicherheitsabstand zwischen Zügen nicht mehr statisch über Blockabschnitte auf einer Strecke geregelt, sondern über Abstände vor und nach dem sich bewegendem Zug, abhängig von seiner Geschwindigkeit und Bremskurve (sog. absoluter Bremswegabstand). Züge können dann in optimalen Abständen fahren (sog. „Moving Block“), so dass mehr Züge auf derselben Strecke eingesetzt werden können. Dafür werden neue Technologien der Zuglokalisierung genutzt, die entgegen heutigen Lokalisierungssystemen nicht mehr als Feldelemente im Gleisbett verbaut, sondern auf jedem Zug integriert sind. Aufwändige Infrastruktur, wie z. B. Gleisfreimeldeanlagen, die über die Erfassung der Zugposition die Belegung von Blöcken kontrollieren, entfallen und Instandhaltungsaufwände reduzieren sich. Die generisch angelegte Sicherungslogik muss nicht mehr auf einmal festgelegte Fahrstraßen zurückgreifen, sondern ist in der Lage, einen Zug während seiner Fahrt von einem beliebigen Start- zu einem beliebigen Zielpunkt stets zu sichern. Dies lässt deutlich mehr Flexibilität in der Betriebsführung zu, vereinfacht betriebliche Abläufe und ermöglicht eine deutlich schnellere Projektierung von auszurüstenden Strecken.

Moving Block erhöht die Kapazität der Schiene Moving Block erhöht die Kapazität der Schiene
Moving Block erhöht die Kapazität der Schiene

Wie funktioniert das Advanced Protection System (APS)?

APS kann als modernes Stellwerk beschrieben werden, welches entgegen der heutigen Leit- und Sicherungstechnik (LST) die Fahrwegsicherung und die streckenseitigen Komponenten der Zugbeeinflussung in einem System kombiniert. Zugseitig greift APS auf ETCS L3 als den europäischen Standard der Zugbeeinflussung zurück. Damit APS seine Arbeit verrichten kann, braucht es – wie die heutige LST auch – zudem die Zusammenarbeit mit weiteren Systemen.  

Eine wichtige Instanz ist das Verkehrsmanagement. Im laufenden Verkehr entstehen immer wieder Störungen, auf die vom Verkehrsmanagementsystem reagiert werden muss. Diese Reaktionen erfolgen heute manuell. Im zukünftigen, noch dichteren Verkehr wird dies immer schwieriger. Parallel zur Entwicklung des APS entwickelt die Digitale Schiene Deutschland daher das Capacity & Traffic Management System (CTMS), das zukünftig unter Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) den Verkehr steuern wird. Das digitale „Gehirn“ des Bahnsystems ermittelt über alle Zugfahrten hinweg den optimalen Fahrplan und die bestmögliche Route für jeden Zug. Im zukünftigen digitalen Bahnsystem teilt CTMS dem APS seine Trassenwünsche mit. APS prüft nach höchsten Sicherheitsvorgaben (SIL 4), ob Fahrwege sicher gestellt werden können und übermittelt dann die entsprechenden Stellbefehle an die Streckenelemente und die Fahrterlaubnis (ETCS Movement Authority) an den Zug.  

Die für diese Vorgänge notwendige Datengrundlage wie Informationen über Topologie, Infrastruktur und Fahrzeugprofile erhält APS von der Systemkomponente Digitales Register (DR). Damit APS die Anfrage des CTMS umsetzen kann, muss diese Datengrundlage um aktuelle Informationen über die Zugposition und -bewegung ergänzt werden. Um nun unabhängig von streckenseitigen Ortungssystemen wie Gleisfreimeldeanlagen oder Wegmarken wie Balisen zu werden und den Zug in den Mittelpunkt zu stellen, muss der Zug seine Zugposition (Zuganfang), Geschwindigkeit und Zugvollständigkeit (Zugende) jederzeit selbstständig ermitteln können. Diese Informationen erhält APS von den zugseitigen Systemen Zuglokalisierung sowie Zugvollständigkeit. Somit sind Anfang und Ende eines jeden Zugs bekannt und der nachfolgende Zug kann sich optimal am vorherfahrenden Zug orientieren. Eine Umsetzung von Zugvollständigkeit mit dem Train Integrity Monitoring System in Triebzügen wird aktuell bei den Fahrzeugen im Digitalen Knoten Stuttgart bereits realisiert.  

 

Die Daten werden funkbasiert übertragen, entweder mit dem herkömmlichen Funkstandard GSM-R oder seinem Nachfolger Future Railway Communication System FRMCS. 

Logische Architektur des Advanced Protection Systems im Zusammenwirken mit weiteren Systemen Logische Architektur des Advanced Protection Systems im Zusammenwirken mit weiteren Systemen
Logische Architektur des Advanced Protection Systems im Zusammenwirken mit weiteren Systemen

Die Anforderungen an Zug- und Infrastrukturausrüstung ändern sich

Durch die Verlagerung der Ortung auf den Zug und den Wegfall der Blöcke reduziert sich die benötigte Infrastrukturausrüstung. Balisen, Achszähler und Kabeltrassen fallen anteilig weg, was Bau- und Instandhaltungsaufwände maßgeblich reduziert. Zudem sind Signale zur Kommunikation mit dem Triebfahrzeugführer durch die direkte Anbindung des Stellwerks mit dem Zug wie mit ETCS L2 ohne Signale auch hier nicht mehr nötig. Störungen von Feldelementen dieser Art sind heute einer der Hauptgründe für Verspätungen und Ausfälle im Zugverkehr.  

 

Trotz des starken Fokus auf den Zug sind die Anforderungen von APS an die Fahrzeugausrüstung vergleichsweise gering: Züge müssen mit ETCS L3 ausgerüstet sein, d. h., dass neben der standardmäßigen Ausrüstung mit einer ETCS Onboard Unit fahrzeugseitig eine weitere Komponente zur Feststellung der Zugvollständigkeit zwingend notwendig ist, um die maximal möglichen Kapazitätseffekte mit APS durch „Moving Block“ zu erzielen. Die zusätzliche Ausrüstung mit einer Zuglokalisierung ermöglicht die Unabhängigkeit von weiterer Infrastrukturausrüstung. Dabei gilt: Je mehr Züge mit ETCS L3 ausgerüstet sind, desto größer sind die Effekte.  

Die Anpassungsfähigkeit des Advanced Protection Systems erleichtert die Migration zum Zielbild

Des Weiteren ist APS abwärtskompatibel: Zwar werden die vollen Potentiale mit einem KI-basierten Verkehrsmanagement und ausschließlich mit ETCS L3-ausgerüsteten Zügen ausgeschöpft. APS ist jedoch so angelegt, dass es sich auch an ein herkömmliches Verkehrsmanagement anschließen lässt oder aber auch ETCS L2-ausgerüstete Züge (ohne zugseitige Zuglokalisierung und -vollständigkeit) sichern und damit einen hybriden Betrieb realisieren kann. APS funktioniert zwar ohne streckenseitige Zugortung, kann aber auch problemlos Informationen von Balisen und Achszählern – wenn verfügbar – integrieren. Als Funkstandard kann APS GSM-R oder FRMCS nutzen. Diese hohe Flexibilität von APS erleichtert die Migration deutlich.  

Das Advanced Protection System ermöglicht hybriden Betrieb mit ETCS L2 und ETCS L3 Das Advanced Protection System ermöglicht hybriden Betrieb mit ETCS L2 und ETCS L3
Das Advanced Protection System ermöglicht hybriden Betrieb mit ETCS L2 und ETCS L3

Das Advanced Protection System schafft mehr Flexibilität durch generische und geometrische Sicherungslogik

Die Sicherungslogik von heutigen Stellwerken ist streckengebunden. Trotz eines generischen Kerns muss jede Strecke mit ihren Eigenschaften individuell geplant und in der Stellwerkssoftware aufwändig angelegt werden, die sogenannte Projektierung. Durch die hohen Sicherheitsanforderungen muss damit vor Inbetriebnahme einer Strecke die sichere Implementierung erneut aufwändig geprüft werden. Da die Strecke zum Zeitpunkt der Planung statisch festgelegt wird, können Änderungen im Nachgang nur mit großen Aufwänden eingearbeitet werden. APS dagegen basiert auf einer sogenannten generischen Sicherungslogik: Der dahinterstehende Algorithmus muss nur einmal programmiert und zugelassen werden und kann ohne weitere Anpassungen auf jeder Strecke eingesetzt werden. Nur das genaue Gleisnetz wird erfasst (inkl. zulässiger Geschwindigkeit, Neigung, Bogenradien). Elemente wie Streckenabschnitte oder Fahrstraßen müssen gar nicht mehr projektiert werden.  Als gemeinsame Datenbasis mit Systemen wie TMS und ATO greift die Sicherungslogik auf das Digitale Register zurück. Somit reduziert sich der Projektierungsaufwand für eine neue Strecke erheblich. Neue Strecken oder Streckenänderungen (wie z.B. durch Einbau einer zusätzlichen Weichenverbindung) müssen lediglich sicher im Digitalen Register aufgenommen werden, es bedarf keiner Anpassung und Neuzulassung der APS-Software.

 

Außerdem ist die Sicherungslogik geometrisch konzipiert, d.h. dass APS in der Lage ist, einen Zug während seiner Fahrt von einem beliebigen Start- zu einem beliebigen Zielpunkt stets zu sichern und das in Abhängigkeit der aktuellen Betriebssituation (z.B. zulässige Geschwindigkeit in Abhängigkeit von verfügbaren Sicherheitspuffern). Durch den Wegfall von Blöcken als Sicherungsobjekt und damit der Überflüssigkeit von Fahrstraßen ist eine geometrische Betrachtung der Zugfahrten (Ausschluss von Überlappungen) möglich für einen sicheren Folge-, Gegen- und Flankenschutz. Eine Fahrterlaubnis umfasst lediglich die Anfrage einer Fahrt von einem beliebigen Start- zu einem beliebigen Zielpunkt. Diese Erlaubnis wird kontinuierlich erweitert und angefragt. Heutige Sicherungstechnik lässt dies aufgrund der während der Projektierung festgelegten Fahrstraßen (also vorab geplanter gesicherter Routen, die für eine Zugfahrt genutzt werden können) nicht zu. Diesen limitierenden Faktor löst APS.  

 

Geometrische Betrachtung der Zugfahrten Geometrische Betrachtung der Zugfahrten
Geometrische Betrachtung der Zugfahrten

Das Advanced Protection System vereinfacht betriebliche Abläufe

Von dem Paradigmenwechsel hin zu zugzentrischer Leit- und Sicherungstechnik und der Einführung einer generischen, geometrischen Sicherungslogik profitiert auch der Betrieb. So werden Betriebsvorschriften vereinfacht und Betriebsabläufe flüssiger.  

 

Weniger Störfälle im Bahnbetrieb 

APS reduziert die Anzahl der betrieblichen Störfälle, indem Störquellen von Anfang an abgebaut werden. Viele Störfälle im heutigen Betrieb lassen sich auf die Trennung der Kommunikation von Stellwerk zur Strecke und Stellwerk zum Zug zurückführen und müssen aufwändig manuell gelöst werden. APS löst diese Trennung auf und integriert die Anweisungen zur Einstellung der Fahrwegelemente und die Freigabe der Fahrt in einem System. Viele der zuvor beschriebenen Störfälle existieren damit gar nicht mehr. Außerdem führen weniger Infrastrukturelemente zu weniger Ausfällen, die den Bahnbetrieb stören könnten.  

 

Weniger Komplexität in der Betriebsführung 

Grundsätzlich gilt, dass alle Zugbewegungen im von APS gesicherten Bereich unter voller Überwachung liegen und Fahraufträge flexibel erteilt werden können. Heute wird zwischen verschiedenen Fahrtmodi unterschieden. So gibt es neben der normalen Zugfahrt das Rangieren von Zügen. Solche Sondersituationen werden heute nicht per System überwacht, sondern müssen durch aufwändige Kommunikation zwischen Fahrdienstleiter und Triebfahrzeugführer koordiniert werden. APS sichert künftig alle Zug- und Rangierfahrten mit dem notwendigen Sicherheitsniveau und macht so die manuelle Abstimmung im Regelfall obsolet, was neben der Erhöhung der Sicherheit zur Entlastung des betrieblichen Personals führt und die Betriebsabläufe flüssiger macht. Nur in vereinzelten Störfällen wird die automatische Sicherung graduell um manuelle Sicherung ergänzt.  

Wie oben beschrieben ist APS durch die geometrische Sicherungslogik nicht mehr auf die Projektierung von Fahrstraßen angewiesen. Das erhöht die Flexibilität in der Betriebsführung erheblich. Zum Beispiel können variable Fahrwege und Durchrutschwege genutzt werden, das Nachrücken an einen Bahnsteig ist möglich, auch können Streckengleise in beide Richtungen benutzt werden - ohne dass dafür ein zusätzlicher Projektierungsaufwand entsteht. 

 

Das Advanced Protection System wird von Beginn an europäisch gedacht

APS ist keine nationale Sonderanfertigung, sondern eine europäisch harmonisierte einheitliche Plattform mit wenigen, aber ausreichenden Konfigurationsmöglichkeiten für nationale Anpassungen. Im Rahmen von RCA (Reference CCS Architecture, eine Initiative von EUG und EULYNX) wird gemeinsam mit anderen europäischen Infrastrukturbetreibern eine standardisierte Leit- und Sicherungstechnik mit APS als Kern neu konzipiert. Durch standardisierte Schnittstellen, harmonisierte Technik und einheitliche betriebliche Regeln unterstützt APS also die angestrebte europäische Interoperabilität.  Die Veröffentlichung von RCA BL1 R0 im September 2022 markiert den Übergang zu Europe’s Rail System Pillar, wo eine gemeinsame Standardisierung durch Bahnen und Industrie erfolgt. 

RCA basiert auf den Prinzipien der ERTMS User Group und EULYNX RCA basiert auf den Prinzipien der ERTMS User Group und EULYNX
RCA basiert auf den Prinzipien der ERTMS User Group und EULYNX

Das Advanced Protection System (APS) erfüllt das Zielbild der Digitalen Schiene Deutschland, mit einer modernen Leit- und Sicherungstechnik das Bahnsystem leistungsfähiger zu machen. Die Entwicklung und Prototypisierung von APS und weiterer Systemkomponenten hat begonnen. Ziel ist es, dass bis Anfang der 2030er ein zugelassenes System mit den Grundfunktionen von APS die Sicherung einer ausgewählten Strecke übernimmt. Darauf aufbauend soll APS bis zur Erreichung der Serienreife entwickelt werden, um dann als Standard für alle neuen LST-Projekte eingesetzt zu werden.