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Das advanced TrainLab (aTL) der Deutschen Bahn Das advanced TrainLab (aTL) der Deutschen Bahn
22.05.2024

Digitale Aufprallerkennung im Bahnbetrieb 
Daten sammeln für das fahrerlose Fahren – eine Fahrt mit dem advanced TrainLab

Berlin, Mai 2024 – Wenn Züge zukünftig fahrerlos fahren, müssen sie nicht nur die Strecke im Blick haben, sondern – falls es doch einmal dazu kommen sollte – auch Aufprallereignisse selbstständig beurteilen können. Die Digitale Schiene Deutschland ist daher an dem Förderprojekt „KI-Methoden in der Zustandsüberwachung und bedarfsangepassten Instandhaltung von Schienenfahrzeugstrukturen“ (KI-MeZIS) beteiligt. Ziel des Projektes ist es, das Potenzial von Künstlicher Intelligenz für die Überwachung solcher Ereignisse zu erschließen. Dafür werden Daten bei deutschlandweiten Testfahrten gesammelt, ausgewertet und interpretiert. Im Interview erläutert Verbundskoordinator und Teilprojektleiter Dr. Martin Köppel, wie die Daten detektiert werden und worauf es bei der Datensammlung ankommt.

 

An einem sonnigen Frühlingstag im März startete das so genannte advanced TrainLab (aTL) der Deutschen Bahn in Potsdam eine seiner zahlreichen Testfahrten. Dabei handelt es sich um das schnellste fahrende Labor Deutschlands – einen ICE-Zug der Baureihe 605, der bis 2017 noch im Personenverkehr im Einsatz war und mit unterschiedlichen Messtechniken ausgestattet ist. Das aTL ist auf elektrifizierten und nicht elektrifizierten Strecken unterwegs und flexibel einsetzbar. Es steht der gesamten Bahnbranche für Testfahrten zur Verfügung und deckt ein breites Spektrum an Versuchen für innovative Technologien ab. Diese sind mit den regulären Zügen im Personen- oder Güterverkehr nicht möglich. Bei der Testfahrt rund um Berlin waren Mitarbeiter der Digitalen Schiene Deutschland sowie des Projektpartners IFB – Institut für Bahntechnik mit an Bord. Der Verbundskoordinator und Teilprojektleiter, Dr. Martin Köppel (Digitale Schiene Deutschland), überwachte die Fahrt und gab spannende Einblicke zum Projekt.

Martin Köppel, Verbundskoordinator und Teilprojektleiter KI-MeZIS bei DSD, vor dem advanced TrainLab

„Die Datensammlung fokussiert sich bei der heutigen Fahrt auf den Normalbetrieb“, so Martin Köppel. „Es geht darum, eine Zugfahrt ohne Störfälle aufzuzeichnen. Die Daten dienen später als Grundlage, um damit Aufzeichnungen von tatsächlichen Aufprallversuchen zu vergleichen.“

Neben den Feldtests, die deutschlandweit durchgeführt werden, fanden im Vorfeld Laborversuche statt, bei denen Teile des aTL mit Aufprallsituationen konfrontiert wurden. Die Projektpartner, DLR – Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie die Universität Stuttgart (Institut für Maschinenelemente, IFM), haben die Tests durchgeführt.

 

Für die Digitale Schiene Deutschland ist die Entwicklung eines Aufprallerkennungssystems entscheidend, denn in offenen Netzen des Vollbahnbereichs treten unvorhergesehene Ereignisse, wie zum Beispiel ein Baum oder Tier im Gleis, häufiger auf. Obwohl diese Ereignisse gemessen an den gefahrenen Zugkilometern äußerst selten vorkommen, müssen sie bei der Entwicklung in sämtlichen Ausprägungen berücksichtigt werden. In der Systemarchitektur der Digitalen Schiene Deutschland zählt die Aufprallerkennung zur „Perception“, also zur Umfelderkennung, die für die Automatic Train Operation (ATO) im höchsten Automatisierungsgrad GoA4 (Grade of Automation 4), also dem fahrerlosen Fahren, erforderlich ist. Mit dieser Stufe wird ein flexibler und häufigerer Fahrzeugeinsatz möglich – eine wichtige Voraussetzung für Mehrverkehr und Kapazitätssteigerung auf der Schiene. Gemessen wird mit Sensoren zur Aufprall- und Überrollerkennung, die im Frontbereich und am Fahrwerk des Zuges angebracht sind. Damit können Aufprälle detektiert und Rückschlüsse auf den Zustand des Fahrzeugs gewonnen werden. Künstliche Intelligenz (KI) übernimmt im Anschluss die Datenauswertung und Interpretation der gesammelten Daten.

 

„Eine bloße Kamera reicht für die Aufprallerkennung nicht aus, denn bei visuellen Aufzeichnungen gibt es immer einen so genannten Blindbereich. Damit ist die Gefahr groß, etwas zu übersehen“, so Martin Köppel. Auch die Aufprallstärke kann mit einer Kamera nicht gemessen werden. Das ist jedoch erforderlich, um festzustellen, wie groß der Schaden durch eine Kollision am Zug ist. Die Technik, die im aTL verbaut wurde, umfasst deshalb auch so genannte Druck- und Beschleunigungssensoren, Dehnmesstreifen sowie Dreh- und Impulsgeber. Die angebrachte Kamera im Frontbereich dient dabei nur als „Backup“, um unklare Aufprallsituationen im Nachgang visuell nachvollziehen zu können.

Die verbauten Sensoren in der Bugklappe des aTL
Im Inneren des aTL kann untere anderem die Stärke des Aufpralls abgelesen werden.

Aufprallerkennungssystem der Digitalen Schiene Deutschland unterscheidet sich von Konkurrenzprodukten

 

Von den erfassten Sensordaten wird abgeleitet, welche sicherheitsrelevanten Schritte erforderlich sind: Muss der Zug beispielsweise bei einem Aufprall gestoppt werden, oder kann er noch bis zum nächsten Bahnhof weiterfahren. „Durch diese expliziten Handlungsempfehlungen unterscheidet sich das System der Digitalen Schiene Deutschland von anderen Produkten auf dem Markt“, so Martin Köppel. Neben der Testfahrt rund um Berlin sind dieses Jahr noch zwei weitere Testfahrten geplant. Die Labortests sind abgeschlossen. Hierbei wurden auch so genannte Beschussversuche durchgeführt, bei denen die Bugkappe des aTL mit unterschiedlichen Objekten in verschiedenen Geschwindigkeiten „beschossen“ wurde. Im vergangenen Jahr fanden auch so genannte „Überrolltests“ bei der Havelländischen Eisenbahn (HVLE) in Berlin-Spandau statt (mehr dazu hier: Link). Dabei kam unter anderem ein Güterwagen zum Einsatz, der mit Sensoren ausgestattet wurde. Bei Geschwindigkeiten bis zu 30 km/h überrollte er unterschiedliche Objekte, wie Stahlrohre, Betonsegmente und einen Einkaufswagen. Der Güterwagen ersetzte dabei das aTL, da im Fall seiner Beschädigung erheblich weniger Kosten entstehen. Die erhobenen Daten werden ebenfalls für den weiteren Projektverlauf herangezogen.

 

Simulationen ergänzen die Realtests

 

Die Daten, die in den Real- und Labortests gesammelt werden, reichen allerdings nicht aus, um eine KI umfassend zu trainieren. Deshalb werden in digitalen Simulationen weitere Tests mit virtuellen Aufprall- und Überrollereignissen durchgeführt. Die real erfassten Daten dienen dabei als Referenzwerte. „Eine simulierte Umgebung benötigt unbedingt reale Tests, um vergleichen zu können, inwieweit Realität und Simulation voneinander abweichen“, so Martin Köppel. Für die Simulationen wird der Unterfahrschutz des Zugs digital generiert und mit den Daten des realen Unterfahrschutzes übereinandergelegt. Dabei muss geprüft werden, ob sich die gemessenen Werte bei einem Aufprall ähneln. „Bei einer guten Simulation kommt es lediglich zu einer Abweichung von maximal 10 Prozent“, so Köppel. Nur durch die ergänzenden Simulationstests können ausreichend Daten für eine KI generiert werden.

 

Die Daten werden auf den Servern von der Industrial Analytics GmbH gespeichert, weiterverarbeitet und mittels KI-Verfahren analysiert. Darüber hinaus werden die Daten in einer so genannten Data Factory gesammelt. Dabei handelt es sich um eine Plattform, die es Bahnunternehmen und Herstellen ermöglicht, Sensordaten europaweit zu sammeln, zu verarbeiten, zu simulieren und für die gegenseitige Nutzung zur Verfügung zu stellen. Ein Ziel ist es, eine umfassende Datengrundlage für das Training von KI-Software zu schaffen. Martin Köppel: „Das Projekt KI-MeZIS befindet sich aktuell in der technischen Entwicklungsstufe TRL 6 (Technology Readiness Level von 1-9) und somit in der Prototypphase“. Langfristig soll das System auf andere Fahrzeugtypen übertragen und in den Regelbetrieb übernommen werden. Die notwendigen Maßnahmen dafür werden in den kommenden Monaten mit den beteiligten Projektpartnern abgestimmt. Bei der Fahrt rund um Berlin konnten jedenfalls ausreichend Daten gesammelt werden. „Das Tagesziel wurde erreicht. Wir sind zufrieden mit dem Ergebnis“, stellt Martin Köppel fest, als das aTL wieder am Bahnhof Potsdam eintraf. Die nächste Fahrt ist im Juni geplant – eventuell bei Regen. Denn auch Faktoren wie unterschiedliche Wetterlagen sind für die Datensammlung entscheidend.

 

KI-MeZIS Fachartikel:

 

Pan-European Railway Data Factory – Infrastruktur und Ökosystem für einen vollautomatisierten Bahnbetrieb | SIGNAL+DRAHT, April 2024

 

Offener Multisensordatensatz für die Entwicklung der Umfeldwahrnehmung beim vollautomatischen Fahren | Eisenbahntechnische Rundschau, April 2023