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Vollautomatisiertes, fahrerloses Fahren Vollautomatisiertes, fahrerloses Fahren
29.05.2024

Vollautomatisiertes, fahrerloses Fahren: Eine Antwort auf den Fachkräftemangel in der Bahnbranche

Schrittweise Einführung ermöglicht schnellstmöglichen Nutzen

 

Berlin, Mai 2024 – Der demografische Wandel und der sich damit verstärkende Fachkräftemangel hinterlassen auch in der Bahnbranche deutliche Spuren. Für viele Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) wird es immer wichtiger, Züge mit weniger Personal zu betreiben. Das vollautomatisierte, fahrerlose Fahren gibt darauf eine Antwort. Im Zielzustand werden keine technisch geschulten Mitarbeiter:innen mehr an Bord eines Zuges benötigt. Bis es allerdings so weit ist, sind noch viele Herausforderungen zu meistern. Eine Entwicklung und ein Rollout in Stufen ist daher sinnvoll, um schnellstmöglich Nutzeneffekte zu erzielen.

 

Zugausfälle wegen Personalmangels – insbesondere von Triebfahrzeugführer:innen (Tf) – sind heute leider die Regel. In Nordrhein-Westfalen sind Anfang des Jahres zum Beispiel fünf Prozent der Züge kurzfristig ausgefallen. Der häufigste Grund dafür war fehlendes Personal. Durch die starke Zunahme von Renteneintritten sowie durch die Tendenz zur Reduktion der Wochenarbeitszeit für Arbeitnehmer:innen im Schichtdienst wird sich die Problemlage zukünftig weiter verschärfen. Eine technische Lösung bietet dafür das vollautomatisierte, fahrerlose Fahren. Technisch geschultes Personal mit i. d. R. mehrjähriger Ausbildung an Bord eines Zuges ist damit nicht mehr notwendig. Der Betrieb kann daher mit weniger kritischen Personalen aufrechterhalten werden.

 

Schon heute gibt es weltweit U-Bahnen und so genannte „Peoplemover“, die vollautomatisiert fahren. Diese Systeme werden allerdings in abgeschlossenen Netzen betrieben – also entweder in Tunneln, auf Hochbahnen oder auf abgesicherten Strecken. Dadurch sind keine automatisierten Systeme für eine Hinderniserkennung bzw. Streckenbeobachtung erforderlich. Bei einem vollautomatischen Betrieb in offenen Netzen hingegen sind solche Systeme obligatorisch.

 

Ein vollautomatisierter Bahnbetrieb benötigt eine Vielzahl moderner Technik. An der Front und der Seite des Zuges übernehmen Sensoren (Radar, Lidar, Kamera, Ultraschall und Infrarot) die Funktion des menschlichen Auges. Die dabei generierten Sensordaten werden mit weiteren Daten fusioniert, wie zum Beispiel einer hochgenauen digitalen Umgebungskarte. Irreguläre Situationen werden erkannt und an die Fahrzeugsteuerung übertragen. Letztlich wird vom System vollautomatisch eine Reaktion ausgelöst.

 

Um die Systeme in die Lage zu versetzen, auf ihr Umfeld reagieren zu können, werden zum einen im Vorfeld Sensordaten im Fahrzeug aufgezeichnet und zum anderen eine Vielzahl betrieblich relevanter Szenarien identifiziert und außerhalb des Systems simuliert. Alle Daten werden in einem zentralen Datenzentrum gespeichert und wiederum den Systemen zur Optimierung des Reaktionsverhaltens zur Verfügung gestellt (sog. Data Factory). Hierbei muss noch umfassende Entwicklungsarbeit geleistet werden. Die Digitale Schiene Deutschland setzt daher – soweit möglich – auf den Transfer von Technologien aus anderen Branchen, wie z. B. Automotive, um Entwicklungskosten gering zu halten und die Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen. Weitere Herausforderungen sind die rechtlichen und betrieblichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf fahrerloses Fahren, die Realisierung notwendiger Investitionen durch die Industrie sowie die Integration in Bestandssysteme.

  

Vor diesem Hintergrund plant die Digitale Schiene Deutschland eine stufenweise Einführung des vollautomatisierten Fahrens (siehe Abbildung). Dabei bietet jede Stufe einen direkten Nutzen und zahlt auf die Verwirklichung des finalen Zielbildes vom vollständig fahrerlosen Fahren ein.

Das Stufenmodell für die Einführung von vollautomatisiertem, fahrerlosem Fahren Das Stufenmodell für die Einführung von vollautomatisiertem, fahrerlosem Fahren
Das Stufenmodell für die Einführung von vollautomatisiertem, fahrerlosem Fahren

Mit fünf Stufen zum Zielbild

 

Beim automatisierten Fahren (Automatic Train Operation, ATO) wird unterschieden zwischen hochautomatisiertem Fahren im Automatisierungsgrad 2 (ATO GoA2) und dem vollautomatisierten, fahrerlosen Fahren im Automatisierungsgrad 4 (ATO GoA4). Im erstgenannten Modus fährt, bremst und hält der Zug automatisch. Die Sicherheitsverantwortung liegt weiterhin beim Tf, der bei Unregelmäßigkeiten eingreift. Im Automatisierungsgrad 4 liegt die Sicherheitsverantwortung vollständig beim System.

 

Ausgangsstufe ist der hochautomatisierte Betrieb im Modus ATO GoA2 over ETCS. Dieser ist heute technisch umsetzbar und wurde von der Digitalen Schiene Deutschland in verschiedenen Projekten erprobt und wird aktuell im Digitalen Knoten Stuttgart bis 2026 erstmalig in der Fläche ausgerollt. Der direkte Nutzen dabei ist ein geringerer Energieverbrauch, eine höhere Betriebsstabilität durch Vermeidung manueller Fehler und geringere Instandhaltungskosten. Der Tf bleibt mit an Bord.

 

In der nächsten Stufe folgt dann das automatisierte Aufrüsten und Bereitstellen des Zuges. Dafür müssen zahlreiche Fahrzeugfunktionen, wie etwa der Vorbereitungsdienst, der heute eine manuelle Interaktion durch den Tf erfordert, automatisiert werden. Zusätzlich ist eine sichere Umfeldwahrnehmung und eine Reaktionsfähigkeit auf Störungen für geringere Geschwindigkeiten umzusetzen. Der Tf muss sich nicht mehr um den Vorbereitungs- und Abschlussdienst am Fahrzeug kümmern und die geplanten Wegezeiten dafür können entfallen. Er steigt erst ab dem ersten Bahnhof zu und fährt den Zug anschließend auf konventionelle Art im Modus ATO GoA 2. Tf für die Bereitstellung sind nicht mehr notwendig und könnten dann z. B. auf der Strecke eingesetzt werden.

 

Die weitere Stufe umfasst dann die vollautomatisierte Fahrt mit Fahrgästen zwischen den Bahnhöfen mit einer höheren Geschwindigkeit. Zur Behebung von Not- und Störfällen ist aber weiterhin ausgebildetes Personal an Bord, das im Zweifel in das System eingreifen, Not- und Störfälle beheben sowie die Evakuierung des Zuges anleiten kann. In der daran anschließenden Stufe fahren die Züge im Regelfall ganz ohne aktives Personal. Lediglich im Stör- und Notfall übernimmt Fachpersonal aus der Ferne die Behebung von Störungen.

 

Alle bisherigen Stufen haben zunächst Regional- und S-Bahnverkehre im Fokus – u. a. anderem wegen geringerer Reisegeschwindigkeiten sowie dem hohen Bedarf an fahrendem Personal. In der letzten Stufe soll das vollautomatisierte Fahren auf weitere Verkehrsarten, wie den Schienengüterverkehr, Personennah- und -fernverkehr übertragen werden. Dafür müssen die jeweiligen Spezifikationen erweitert oder angepasst und im Rahmen von Erstimplementierungen umgesetzt und erprobt werden.

 

Projekt AutomatedTrain 2023 gestartet

 

Mit dem im Sommer 2023 gestarteten Projekt AutomatedTrain setzt die Digitale Schiene Deutschland bis 2026 einen fortschrittlichen Prototyp für die Stufe 1 auf die Schiene. Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mit rund 42 Mio EUR gefördert. Ziel des Projekts ist der Nachweis der technischen Machbarkeit einer vollautomatisierten Aufrüstung sowie die Bereit- und Abstellung von Fahrzeugen mit limitierter Geschwindigkeit in offenen Netzen unter ETCS. Die prototypische Implementierung der Hindernisdetektion soll mit einem gemeinsam definierten Sensorset auf zwei unterschiedlichen Fahrzeugtypen erfolgen.

 

In unserem aktuellen Artikel im Fachmagazin EI – Der Eisenbahningenieur (EI 05/24) gibt es spannende weitere Informationen zum Thema vollautomatisiertes Fahren, dem Stand der Technik und laufenden Pilotprojekten.

Viel Spaß beim Lesen!