Künstliche Intelligenz als Game Changer für das Kapazitäts- und Verkehrsmanagement im Bahnsystem der Zukunft
Im Rahmen der Sektorinitiative Digitale Schiene Deutschland (DSD) hat die Deutsche Bahn gemeinsam mit ihrer Partnerfirma InstaDeep erste Prototypen eines auf künstlicher Intelligenz (KI) basierenden Fahrplanungs- und Betriebssteuersystems der Infrastruktur entwickelt. In dem vom Bundesumweltministerium geförderten Forschungsprojekt „KI am Zug“ wurde von November 2020 bis Dezember 2021 insbesondere die KI-Methode des Deep Reinforcement Learning erprobt. Damit wurde ein wesentlicher Schritt zur Realisierung eines automatisierten Kapazitäts- und Verkehrsmanagement-Systems (CTMS – Capacity & Traffic Management System) geschaffen. Ein solches System, in Kombination mit weiteren Komponenten des künftigen, digitalisierten Bahnsystems, ist Voraussetzung für mehr Kapazität, Pünktlichkeit und Effizienz im Schienenverkehr.
Es wird künftig darum gehen, mehr Verkehr auf dem bestehenden Schienennetz möglichst optimal zu planen. Wenn tausende von Zügen im dichten Verkehr unterwegs sind, müssen bei Störungen schnelle Entscheidungen zur Anpassung des Betriebsablaufs getroffen werden. Diese wiederum führen kaskadenartig zu weiteren notwendigen Änderungen. Bei dieser Komplexität geraten die heutigen, größtenteils manuellen Planungs- und Dispositionsprozesse rasch an ihre Grenzen. Bislang war es nur in Teilen möglich, diese Prozesse mit IT zu unterstützen. Haupthindernis war die mangelnde Skalierbarkeit existierender Methoden. Das heißt, Verfahren zur Optimierung in einem kleinen, isoliert betrachteten Netzbezirk können nicht mit vertretbarer Rechenzeit auf große Bezirke oder gar das Gesamtnetz angewendet werden, in dem täglich zehntausende Zugfahrten auf mehr als 33,000 km Schienenstrecke stattfinden.
Das bei “KI am Zug” erforschte Deep Reinforcement Learning erfüllt nach den im Projekt gewonnenen Erkenntnissen die Anforderung der Skalierbarkeit. Auf dem momentanen Stand können KI-Optimierer Anfragen für mehr als 300 Zugfahrten auf Eisenbahnkorridoren mit über 3000 Gleiskilometern prozessieren und dabei innerhalb kurzer Zeit hochdetaillierte Ablaufpläne erstellen, sowohl für die Zugbewegungen als auch für die digitale Leit- und Sicherungstechnik. Auf injizierte Störungen im (momentan natürlich noch simulierten) Betriebsablauf reagieren die KI-Optimierer flexibel und schnell mit Änderung der zuvor erstellten Pläne. Dabei werden nach Bedarf Fahrtrouten umgeleitet, Zugreihenfolgen bei der Einfahrt in Knoten umgestellt oder Geschwindigkeitsvorgaben angepasst, was dann wieder zu einem reibungsärmeren Verkehrsfluss führt. Die benötigte Rechenzeit steigt nur proportional zur Problemgröße, nicht jedoch exponentiell, was ein starker Indikator für die gewünschte Verbesserung gegenüber klassischen Optimierungsmethoden ist.
Möglich wird die Skalierbarkeit durch Komplexitätsreduktion in lernenden KI-Systemen. Beim Deep Reinforcement Learning lernt ein System durch Interaktion mit einer simulierten Bahnbetriebsrealität und verbessert mit zunehmender Erfahrung seine Fähigkeit, gute Entscheidungen auf Basis einer gegebenen Situation zu treffen. Solche Situationen beinhalten sowohl exakt konfigurierte Schienennetze als auch physikalische Bewegungen von Zügen, inklusive deren Transportaufträge. Im Training werden die KI-Systeme einer großen Anzahl von Situationen ausgesetzt. Die Qualität ihrer Entscheidungen wird gemessen an gewünschten Indikatoren wie Reisezeiten, Wegstrecken und Pünktlichkeit sowie der Erfüllung verschiedener Randbedingungen. Auf diese Weise können sehr viele und verschiedenartige Optimierungszusammenhänge und Rahmenbedingungen modelliert und trainiert werden. Diese Flexibilität ist neben der Skalierbarkeit die weitere essenzielle Eigenschaft des Deep Reinforcement Learning. Ferner hat „KI am Zug“ den Beweis der Generalisierung erbracht. Breit angelegte Tests mit künstlich generierten Netz-Infrastrukturen und Betriebssituationen zeigen, dass die trainierten KI-Modelle in der Lage sind, ihre im Training erlangten Fähigkeiten auf neue, „unbekannte“ Aufgaben anzuwenden.
Längst planen und steuern die CTMS-Prototypen nicht nur Zugfahrten. Das automatisierte Kapazitätsmanagement optimiert auch die zeitliche Planung von Instandhaltungsmaßnahmen des Schienennetzes. Wenn Fahren und Bauen in einem gemeinsamen Prozess austariert werden, wie bei „KI am Zug“ gezeigt, werden beide Bedürfnisse besser bedient. Diese Funktion des CTMS soll unter anderem in der langfristigen Planung eingesetzt werden, wo Baumaßnahmen Jahre im Voraus und unter Berücksichtigung ihrer Effekte auf das Kapazitätsangebot geplant werden.
Nach wie vor ist der Einsatz von Deep Reinforcement Learning eine echte Neuheit, da diese Methode bisher kaum in der industriellen Praxis eingesetzt wird. Mit der Entwicklung des infrastrukturseitigen CTMS und betreiberseitigen Projekten wie „KI bei den S-Bahnen“ leistet die Deutsche Bahn echte Pionierarbeit.
In der Bahndomäne kam erschwerend hinzu, dass zu dieser Art der künstlichen Intelligenz eine realitätsnahe Lernumgebung notwendig ist. Aus diesem Grund hat das CTMS-Team der Digitalen Schiene Deutschland eine mikroskopische, hoch-performante Bahnbetriebssimulation entwickelt, die im Zuge des Projekts weiter auf die spezifischen Bedürfnisse des KI-Trainings sowie zum Zwecke der Qualitätssicherung zugeschnitten wurde. Sowohl die Simulationsumgebung als auch die beschriebenen KI-Systeme werden kontinuierlich weiterentwickelt mit Blick auf das Ziel, Kapazität und Verkehr im deutschen Gesamtnetz zu planen beziehungsweise steuern.
Aufbauend auf den grundlegenden Ergebnissen zu Skalierbarkeit, Flexibilität und Generalisierung aus dem Projekt verspricht Deep Reinforcement Learning, ein Game Changer für das zukünftige Bahnsystem zu sein.