Digitale Schiene Deutschland und NVIDIA arbeiten an einem digitalen Zwilling des Schienennetzes
Um vollautomatisiert fahren zu können, muss zukünftig Sensorik an der Zugfront in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz (KI) sowohl Gleisumfeld als auch Hindernisse erfassen und interpretieren können. Die Anzahl möglicher Situationen im Bahnbetrieb ist sehr hoch und kann in der Praxis nicht vollständig aufgezeichnet werden. Ein digitaler Zwilling des Schienennetzes macht es möglich, verschiedenste Situationen beliebig oft zu simulieren, um die KI zielgerichtet zu trainieren - losgelöst von der Verfügbarkeit realer Bahntrassen oder Fahrzeugen.
Für das vollautomatisierte Fahren im höchsten Automatisierungsgrad GoA4 (fahrerloses Fahren) sind sensorbasierte Wahrnehmungssysteme für die Erkennung des Gleisumfeldes sowie von Objekten auf der Strecke von zentraler Bedeutung. In der Praxis bestehen diese Systeme aus einer Kombination verschiedener Sensoren, wie z. B. Stereo- oder Infrarotkameras, Lidaren und Radaren, die an der Fahrzeugfront angebracht sind. In Verbindung mit intelligenter Software müssen diese Systeme das, was sie sensorisch erfassen, auch interpretieren können. Beim vollautomatisierten Fahren müssen sie am Ende komplexe Aufgaben übernehmen, wie beispielsweise die Streckenbeobachtung bei Zugfahrten und intelligente Entscheidungsfindung bei irregulären Vorkommnissen. Erst dadurch kann das Triebfahrzeug selbstständig auf besondere Ereignisse reagieren, wie bspw. die Einleitung einer Notbremsung. Im Projekt Sensors4Rail testet die Digitale Schiene Deutschland seit 2019 mit einem eigens dafür ausgerüsteten Triebzug die Leistungsfähigkeit solcher Systeme sehr intensiv (s. Abb. 1).
Während die Entwicklung der Sensorik schon fortgeschritten ist, steht die Entwicklung der KI-basierten Funktionen noch am Anfang. Die Anzahl möglicher Situationen, die von einer KI im Bahnbetrieb der Zukunft gemeistert werden müssen, ist sehr hoch: Sie reichen von alltäglichen bis zu sehr seltenen Ereignissen bei unterschiedlichsten Wetter-, Tages- und Jahreszeitbedingungen und an beliebigen Orten im deutschen Schienennetz mit seinen ca. 33.000 km Länge. Um eine solche KI für die Umfeldwahrnehmung zu entwickeln, benötigt es sehr große Datenmengen. Diese können zum einen durch die Aufzeichnung von realen Sensordaten und zum anderen durch Simulation künstlich generierter Daten gewonnen werden. Das Zurückgreifen auf simulierte Daten ist dabei unerlässlich, da es in der Praxis unmöglich ist, allein durch reale Aufzeichnungen alle denkbaren Ereignisse und Sonderfälle des Bahnbetriebs abzudecken.
Für die Simulation ist die Erstellung eines exakten digitalen Zwillings des Umfeldes der Bahnstrecken und Stationen notwendig. Damit ist es möglich, Daten für die KI-Entwicklung auf Basis eines umfangreichen Szenarienkatalogs in mannigfaltigen Ausprägungen bereitzustellen. Entscheidend ist dabei eine sehr hohe Realitätstreue der simulierten Daten. Losgelöst von der Verfügbarkeit der realen Bahntrassen kann der Bahnsektor dann die KI für ein vollautomatisiertes System im digitalen Zwilling virtuell und zielgerichtet, d.h. signifikant schneller als im Fahrzeug, lernen lassen. Der Lerngeschwindigkeit der KI sind im Wesentlichen nur die Grenzen der verfügbaren Rechenleistung gesetzt.
Für dieses Vorhaben arbeitet die Digitale Schiene Deutschland mit der state-of-the-art Technologie von NVIDIA, was dem Bahnsektor die Entwicklung und das Training von KI gemäß dem neuesten Stand der Technik ermöglicht. NVIDIA stellt dabei spezielle Rechensysteme für das Training von KI-Modellen (NVIDIA DGX Systeme) und die Beschleunigung photorealistischer Simulation (NVIDIA OVX) zur Verfügung, die auf NVIDIA Omniverse basieren, einer hochentwickelten Echtzeit-3D-Simulationsplattform für die Erstellung und den Betrieb von digitalen Zwillingen. Die Digitale Schiene Deutschland übernimmt dabei das eigentliche Design, die Applikation sowie die Sicherstellung und Anwendung eines qualifizierten Prozesses zur Erstellung des digitalen Zwillings. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit der DB Systel und weiteren Entwicklungspartnern, die auf Simulation, Kartierung, 3D-Modellierung und Computergrafik spezialisiert sind.
Die Grundlage des digitalen Zwillings bildet eine hochaufgelöste digitale Karte, die sehr präzise vermessene Geometrien der echten Strecken enthält. Bei der Konstruktion des digitalen Zwillings wird diese Karte um 3D-Modelle, Texturen und Materialeigenschaften ergänzt. Dabei entsteht ein digitales, photorealistisches Abbild der echten Strecken (s. Abb. 2). Dieses enthält Gleise, die durch Städte und Landschaften verlaufen sowie viele weitere Details wie exakt nachgebildete Bahnhöfe, (Bahn-)gebäude, Infrastrukturelemente und Vegetation. Ferner wird das zukünftige Sensorset der Züge und die Sensormodelle im digitalen Zwilling exakt nachgebildet, so dass in der virtuellen Welt physikalisch korrekte Messdaten zum Trainieren der KI gesammelt werden können. Die dauerhafte Ablage und Bereitstellung der simulierten Daten erfolgt über eine sogenannte Data Factory, mit deren Aufbau in der ersten Hälfte des Jahres 2022 bereits begonnen wurde.
Das nächste Entwicklungsziel ist die Bereitstellung der Simulation in der Data Factory. Die Gesamtentwicklung wird in mehreren Schritten umgesetzt, die mit der Staffelung der Digitalisierung der Bahnstrecken verzahnt werden.
Aktuell wird die Simulation auf Grundlage der im Sensors4Rail-Projekt gewonnenen Mess- und Kartendaten aufgebaut, so dass ein erster photorealistischer digitaler Zwilling eines größeren Teilnetzes in Deutschland für das Training automatisierter Fahrfunktionen zur Verfügung steht (s. Abb. 4).
In der Hansestadt Hamburg, zwischen den Stationen Berliner Tor und Hamburg Bergedorf (der Teststrecke des Sensors4Rail Projekts), werden sich somit demnächst zahlreiche irreguläre Ereignisse rund um die Strecke abspielen. Aber zum Glück nur rein virtuell und mit der Absicht, den Bahnverkehr der Zukunft leistungsfähiger und zuverlässiger zu machen!